32. Kapitel

 

Das Zuschlagen der Tür riss Violet aus ihrem unruhigen Schlaf. Sogleich stemmte sie sich auf die Beine und blickte dem Eintretenden entgegen.

Ihre Nase verriet ihr, dass es Daniel war.

»Wie kann ich Ihnen behilflich sein» Daniel?«, fragte sie sarkastisch. Sie hatte eigentlich gar nichts sagen wollen, aber die Stille fiel ihr allmählich zur Last. Seit zwei Tagen hatte sie mit niemandem mehr gesprochen. Der Wachtposten, der sie in regelmäßigen Abständen nach draußen führte, damit sie ihre Notdurft verrichten konnte, sprach nie ein Wort.

Der nagende Hunger war leicht zu ertragen. Was sie verrückt machte, war das endlose Warten.

»Sind Sie gekommen, um mich zu töten?«

Daniel lachte auf. Mit geschmeidigen Schritten ging er um sie herum. »Ich wusste doch, dass ich dich von irgendwoher kenne«, sagte er, »aber ich habe es auf den Zirkus zurückgeführt... mein Fehler. Andererseits, wer hätte auch darauf kommen können? Ich war mir fast sicher, dass sie dich umgebracht hat, sie hat dich oft genug verflucht.«

Violet erstarrte. Was meinte er damit?

»Wovon reden Sie? Wir sind uns noch nie zuvor begegnet.«

Daniel lachte spöttisch. »O doch. Wenn ich mich recht erinnere, hast du dich damals unter einem Küchentisch versteckt. Du siehst deiner Mutter nicht gerade ähnlich. Kein Wunder, dass ich nicht früher darauf gekommen bin.«

Violet rang unwillkürlich nach Luft. Sie wusste genau, was er meinte: der Küchentisch, ihre Puppe, sie kannte das alles aus ihren Albträumen. Der Besucher ihrer Mutter... sie hatte ihn sich unbedingt ansehen wollen - als sie noch sehen konnte. Aber sie war erwischt worden. Und an dem Tage hatte ihre Mutter sie blind gemacht, als Strafe fürs Spionieren.

»Lady Dewberry hat dich gut ausgebildet, Jägerin. Aber offenbar nicht gut genug, denn es ist dir nicht gelungen, Patrick zu töten.« Daniel schnalzte bedauernd mit der Zunge - Violet konzentrierte sich aufs Atmen, versuchte, sich nichts von ihrem inneren Gefühlsaufruhr anmerken zu lassen. Woher kannte Daniel ihre Mutter? Sie hasste Bluttrinker! Und wieso war er enttäuscht darüber, dass sie Patrick nicht getötet hatte? Sie begriff das alles nicht!

»Was wissen Sie von meiner Mutter?«, fragte Violet. Kannte er auch ihren Vater? Wusste er das mit Ismail?

»So viele Fragen...« Er lachte spöttisch.

»Was wissen Sie über Ismail?«, rief sie erregt. Wie viel wusste Daniel?

»Beruhige dich. Ich weiß, dass du Ismail in deine Falle locken wolltest, ich habe an dem Abend deine Gedanken gelesen, kurz bevor du ihm in diesem Zimmer aufgelauert hast. Aber wir befinden uns hier im Territorium des Nordclans, und da ist Patrick nun mal das größere Problem. Daher habe ich ihn zu dir geschickt und nicht Ismail. Du solltest mir dankbar sein!«

Violet biss die Zähne zusammen. Verflucht!. Also er war schuld daran, dass alles so schrecklich schiefgegangen war!

»Du bist wütend? Klar, das verstehe ich. Offenbar hast du den Hass deiner Mutter auf Ismail geerbt. Mir war nie klar, warum sie es ausgerechnet so auf ihn abgesehen hatte. Eine persönliche Vendetta? Ein ehemaliger Liebhaber, der sie sitzen gelassen hat?«

Sie schwieg, versuchte mühsam ihren Zorn zu zügeln.

Achselzuckend fuhr er fort: »Aber was spielt das jetzt noch für eine Rolle? Ich habe dir einen Vorschlag zu machen, Jägerin.«

Violet war hin- und hergerissen. Sie hätte ihm den Hals umdrehen können, diesem Schurken und Betrüger! Andrerseits wusste er vielleicht etwas über ihren Vater. Sie beschloss, ihn in seinem Irrtum zu belassen und sein Spiel mitzuspielen.

»Ich höre.«

»Du scheinst recht geschickt mit dem Dolch zu sein.« Daniel berührte sie am Ellbogen, ließ seine Finger über ihren Unterarm wandern. Violet unterdrückte ein angeekeltes Schaudern. »Und wir können Leute gebrauchen, die gut mit dem Dolch umgehen können.«

»Wir?«, fragte sie so gleichgültig, wie es ihre aufgewühlten Gefühle zuließen.

»Ach ja, du wirst sicher angenommen haben, dass die Bewegung der Wahren Vampire nach dem Tod unseres Anführers Sergei untergegangen ist.« Daniel beugte sich vor, seine Lippen waren nur noch wenige Zentimeter von den ihren entfernt, sein Atem strich ihr heiß übers Gesicht. »Es gibt uns immer noch. Und wir sind bereit, den gleichen Handel mit dir abzuschließen, den wir mit deiner Mutter hatten. Töte für uns, und wir verschonen dich, wenn wir die Weltherrschaft übernommen haben.«

Die Weltherrschaft.

Violet erschauderte unwillkürlich. Sie konnte Daniels Hass förmlich spüren, den fanatischen Eifer in seiner Stimme hören.

»Und wen soll ich töten?« Ihr wurde ganz übel. Sie war keine kaltblütige Mörderin, er mochte denken, was er wollte. Alles, was sie wollte, war Rache. Gerechtigkeit. Sie war keine Killerin.

»Dieselbe Person wie zuvor, natürlich. Patrick. Die Clanführer müssen als Erste sterben. Das stiftet Verwirrung, und dann werden wir die Macht ergreifen.«

Patrick war also ein Clanführer. Sie hatte nicht gewusst, dass die Bluttrinker in Clans aufgeteilt waren. Alles, was Daniel sagte, warf nur noch mehr Fragen auf. Sie hob die Hände.

»Dann gib mir ein Messer, Daniel.«

Sie hatte natürlich nicht die Absicht, Patrick zu töten. Tatsächlich wollte sie ihn warnen, sobald sie konnte. Er musste das mit Daniel und den Wahren Vampiren erfahren. Aber zuerst würde sie den Bastard töten, der ihren Vater ermordet hatte.

Sobald sie ein Messer besaß.

»Na, so funktioniert das nicht, Schätzchen. Erst musst du Patrick von deiner Unschuld überzeugen und sehen, dass du hier rauskommst. Wenn dir das gelingt, bist du nützlich für uns und wirst bei uns aufgenommen. Wir werden dir helfen, eine narrensichere Methode zu finden, Patrick zu töten. Und viele andere.

Wenn nicht - nun gut, dann werde ich bei deiner Hinrichtung zusehen.«

Seine herzlosen Worte hingen in der nun folgenden Stille im Raum. Violet überlegte fieberhaft. Sie brauchte einen Plan, sie musste ihn aufhalten, sie musste mehr über ihn und seinen Klüngel herausfinden!

»Wann?«

»Was wann?« Daniels Geruch entfernte sich. Er wollte gehen!

Violet sagte das Erste, was ihr in den Sinn kam. »Wann wollt ihr mich bei euch aufnehmen?«

»Ich werde mich zu gegebener Zeit mit dir in Verbindung setzen. Dann erfährst du Ort und Zeit.«

Violet nickte und trat einen Schritt vor. Sie hatte noch eine Frage, eine einzige.

»Weißt du, warum Ismail meinen Vater so sehr hasste?«

Violet hielt den Atem an. Diese Frage stellte sie sich seit vierzehn Jahren.

»Dein Vater? Dein Vater war ein Gärtner. Lady Dewberry hat ihn mir eines Nachmittags selbst vorgestellt. Sie fand es offenbar amüsant, dass er keine Ahnung von dir hatte.« Er hielt inne und lachte spöttisch. »Ah, ich sehe, das hast du nicht gewusst. Egal, es war besser so. Das letzte Mal, als ich dort war, vor zwei Jahren, war das Personal in Trauer. Er starb an einem Fieber, weißt du. Aber wieso glaubst du, dass Ismail ihn gehasst hat? Der Kerl hasst niemanden, soweit ich weiß. Er ist so eine Art Mystiker, einfach lächerlich.«

Damit machte Daniel die Tür auf, und ein eiskalter Windstoß wehte herein. Das Zuschlagen der Tür hörte Violet schon gar nicht mehr.

Wie betäubt sank sie zu Boden, zog die Knie an die Brust und begann sich vor und zurück zu wiegen, wie früher, als sie noch ein Kind war. Plötzlich erbrach sie sich.

Sie hatte nur den einen Gedanken: Ihr Vater war erst vor zwei Jahren gestorben, an einem Fieber... Ismail hatte ihn gar nicht getötet.

 

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